Deutschlands Niedriglohnsektor ist einer der größten in der EU

Der hohe Anteil an Arbeitsnehmern im Mindestlohnsegment soll reduziert werden. Ein substanzieller Mindestlohn und die Stabilisierung des Tarifsystems könnten eine Lösung darstellen.

Die aktuelle Europäische Lohnstrukturerhebung aus 2010 ergab im Vergleich zu den 1990er- und frühen 2000er-Jahren einen leichten Rückgang in der Zunahme an Beschäftigten im Niedriglohnsegment. Da unterschiedliche statistische Quellen differierende Trends melden, lässt sich nicht belegen, ob das Wachstum vollständig zum Stillstand kam. Zahlen des Institut Arbeit und Qualifikation (IAQ) vermelden für 2007 bis 2010 eine Stagnation oder einen leichten Rückgang des Niedriglöhner-Anteils, je nach verwendeter Niedriglohnschwelle. Dennoch gibt es keine Änderung in den absoluten Zahlen. Nach einer Auswertung der der Forscher von der Uni Duisburg-Essen verdienten rund acht Millionen Menschen weniger als 9,15 Euro. Dieser Stundenlohn wird für von den Wissenschaftlern auf Basis des Sozio-ökonomischen Panels (SOEP) für die Niedriglohnschwelle angesetzt.

22 Prozent erhalten Niedriglohn
WSI-Tarifexperte Thorsten Schulten erläutert, dass die die Bundesrepublik den siebtgrößten Niedriglohnsektor in der EU darstellt. Nach der aktuellsten Europäischen Lohnstrukturerhebung mussten sich 22,2 Prozent der Beschäftigten in Deutschland im Jahr 2010 mit einem Niedriglohn begnügen, der weniger als zwei Drittel mittleren Stundenlohnes betrug. Lediglich in den drei baltischen Staaten, in Rumänien, Polen und Zypern lag der Anteil der Beschäftigten im Niedriglohnsegment höher. Durchschnittlich erhielten 17 Prozent der Beschäftigen der EU einen Niedriglohn. Schulten gibt zu, dass sich in Südeuropa durch die Krise und die harte Sparpolitik seit 2010 verschlechtert habe. Dennoch kann Deutschland seiner Meinung nach nicht akzeptieren, dass mehr als ein Fünftel der Arbeitnehmer so niedrige Löhne erhalten.

Hoher Anteil von Minijobbern und Leiharbeitern
Das Statistische Bundesamt vermeldete im Herbst 2012 in einem Vergleich der Verdienststrukturerhebungen von 2006 und 2010 einen erneuten Anstieg der Niedriglohnquote. Beschäftigte mit Minijobs oder in der Leiharbeit sind überdurchschnittlich stark betroffen. Lohnhöhe und Tarifverträge hängen laut den amtlichen Statistikern stark zusammen. Bei tarifgebundenen Firmen betrug der Anteil der für einen Niedriglohn Beschäftigen knapp 12 Prozent in 2010, in nicht tariflich angebundenen Betrieben lag der Anteil bei 31 Prozent.

Tarifbindung sorgt für Rückgang von Niedriglöhnen
Auch beim Europa-Vergleich beobachtete WSI-Forscher Schulten einen geringeren Anteil von Niedriglöhnen in Ländern mit hoher Tarifbindung. Hier können die Staaten den Niedriglohnsektor durch Regulierung kontrollieren. Mit knapp 70 Prozent der Beschäftigten Gewerkschaftsmitglieder und einer Geltung der Tarifverträge für mehr als 90 Prozent, weist Schweden die geringste Niedriglohnquote auf. Die Situation ist ähnlich in Dänemark und Finnland. Hier werden Tarifverträge zudem oft per Allgemeinverbindlicherklärung auf Betriebe ohne Tarifbindung übertragen. Frankreich und Belgien verfahren ähnlich, zusätzlich ist hier der gesetzliche Mindestlohn mit einer Untergrenze von mehr als 9 Euro pro Stunde limitiert.

Nach Meinung des WSI Forschers könnte durch Einsatz dieser Instrumente auch in Deutschland der Anteil an Niedriglohnempfängern reduziert werden. Der europäische Vergleich ergibt jedoch, dass Lohnuntergrenzen erst ab einer bestimmten Höhe wirkten. Die Mindestlöhne in Rumänen, Estland oder Ungarn lägen nur bei rund einem Drittel der durchschnittlichen Verdienste und seien somit offenbar zu gering, um große Niedriglohnbereiche zu verhindern.